Der Senat 2 befasste sich mit dem Artikel „Russin sticht Ehemann nieder und macht Selfie“, erschienen am 20.12.2021 auf „krone.at“. Nach Meinung des Senats verstößt der Artikel gegen die Punkte 5 (Persönlichkeitsschutz) und 6 (Intimsphäre) des Ehrenkodex für die österreichische Presse.
Der Artikel berichtet, dass eine Frau in Russland ein mehr als unpassendes Selfie geschossen habe: Während eines Streits, bei dem viel Alkohol im Spiel gewesen sei, habe sie ihren Mann niedergestochen. Die Tatverdächtige habe ihr Handy gezückt, während der Mann blutend am Boden gekauert sei, um diesen Moment festzuhalten. Anschließend habe sie die Aufnahme an ihre Freunde weitergeschickt und dies mit den Worten kommentiert: „Es schaut aus, als wäre ich das Biest.“ Dem Artikel ist das Selfie nach der Tat beigefügt, worauf man die Frau und ihren verletzten Mann unverpixelt zeigt. Das Opfer sitzt benommen auf dem Boden; sein blutiger Körper, Einstiche im Bauchbereich und Blutspuren auf dem Boden sind erkennbar.
Eine Leserin wandte sich an den Presserat und kritisierte die Veröffentlichung des brutalen Fotos als medienethisch verwerflich. Die Medieninhaberin nahm am Verfahren vor dem Presserat nicht teil.
Verletzungen des Ehrenkodex für die österreichische Presse
Der Senat betont, dass Medien beim Thema „häusliche Gewalt“ zwar einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung leisten können, dabei jedoch stets auf die Würde der Opfer zu achten haben. Das Leid, das die Betroffenen und ihre Angehörigen erfahren, darf man durch die Berichterstattung nicht vergrößern, etwa durch die Bekanntgabe grausamer Details oder die Veröffentlichung von Bildmaterial, das die Persönlichkeitssphäre des Opfers verletzt (vgl. Punkt 5.4 des Ehrenkodex für die österreichische Presse).
Auf dem vorliegenden Foto ist das Opfer in benommenem Zustand, schwer verletzt – mit mehreren Blutspuren sowie Einstichen am Körper – zu sehen; dies lässt unmittelbare Rückschlüsse auf die Brutalität der Gewalttat zu. Nach Meinung des Senats ist die Veröffentlichung solcher Fotos geeignet, das Leid des Opfers und seiner nahen Angehörigen zu vergrößern. Dabei spielt es keine Rolle, ob man andere Teile des Fotos bzw. mögliche weitere Blutspuren verpixelt hat. Im Sinne der bisherigen Entscheidungspraxis wertet der Senat die Fotoveröffentlichung als Eingriff in die Menschenwürde. Es liegt sowohl eine Verletzung des Persönlichkeitsschutzes als auch der Intimsphäre des Opfers vor (Punkte 5 und 6 des Ehrenkodex für die österreichische Presse).
Zudem ist es auch unerheblich, dass das brutale Foto zuvor von der Tatverdächtigen in den sozialen Medien verbreitet wurde. Die Redaktion des betroffenen Mediums muss eigenständig darüber entscheiden, ob die Veröffentlichung von Bildmaterial persönlichkeitsverletzend ist. Eine Verbreitung des Fotos auf anderen Kanälen rechtfertigt die Veröffentlichung derartiger Bildaufnahmen nicht automatisch. Schließlich kann der Senat an der Veröffentlichung des Fotos auch kein legitimes Informationsinteresse erkennen. Die Veröffentlichung dient vor allem der Befriedigung des Voyeurismus und der Sensationsinteressen gewisser Userinnen und User (Punkt 10.3 des Ehrenkodex für die österreichische Presse). Im Ergebnis wurde das Medium seiner Filterfunktion nicht gerecht.
Selbstständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung einer Leserin
Der Senat fordert die Medieninhaberin auf, freiwillig über den Ethikverstoß zu berichten. Überdies merkt der Senat kritisch an, dass das brutale Foto nach wie vor in den Beitrag eingebettet ist; im Sinne der vorliegenden Entscheidung empfiehlt er eine Entfernung.
Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig.
Im vorliegenden Fall führte der Senat 2 des Presserats aufgrund einer Mitteilung eines Lesers ein Verfahren durch. Es handelt sich um ein selbständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung. In diesem Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht. Die Medieninhaberin von „krone.at“ hat von der Möglichkeit, am Verfahren teilzunehmen, keinen Gebrauch gemacht.
Die Medieninhaberin der „Kronen Zeitung“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats bisher nicht anerkannt.